Dieser Artikel erschien als Originalbeitrag am 15.09.2021 im Blog: Solidaritätsstudien auf Standard.at. Er basiert auf Ergebnissen des Artikels "Understanding compliance as multi-faceted: Values and practices during the Covid-19 pandemic in Austria" (aktuell in Begutachtung) von Wanda Spahl, Mirjam Pot & Katharina T. Paul. Die Autorinnen analysierten im Rahmen der SolPan Studie (Langer Titel: Solidarität in Zeiten einer Pandemie – Was machen Menschen und warum?) im April 2020 in Österreich geführte qualitative Interviews.
Zur Eindämmung des Coronavirus wurde weltweit auf Maßnahmen gesetzt, die weitreichende Veränderungen für das tägliche Leben bedeuteten. Regierungen appellierten seit Beginn der Pandemie, die Maskenpflicht einzuhalten oder Kontakte zu begrenzen. Dabei wurde neben Strafen bei Nichteinhaltung die persönliche Verantwortung der Einzelnen in den Mittelpunkt gestellt und damit das Einhalten von Maßnahmen zur individuellen Entscheidung erklärt.
Wenig überraschend zeigte der Verlauf der Pandemie, dass vor allem in demokratischen Gesellschaften nicht alle den Regierungsmaßnahmen folgen. Nicht selten wurden diese Personen von Medien oder Politikern und Politikerinnen – etwa junge Menschen, die sich mit anderen im Freien trafen und die Abstandsregeln nicht einhielten – kritisiert. Nicht nur würden sie sich der geforderten persönlichen Verantwortung nicht stellen, sie wurden auch für das Andauern der Pandemie und gar für den Tod anderer verantwortlich gemacht. So bezeichneten etwa Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) all jene, die die Maßnahmen nicht befolgten, als "Lebensgefährder".
Oft keine persönliche Entscheidung
Wer die Maßnahmen einhält und wer nicht, steht auch im Mittelpunkt einer wachsenden Zahl an wissenschaftlichen Publikationen. Dabei zeigen Studien, dass persönliche Motivationen und Dispositionen bestimmen, wer sich an politische Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hält. Zum Beispiel halten sich ängstliche Menschen, jene, die ihrer Regierung vertrauen, und Personen mit einem starken Glauben an die Wissenschaft eher an die Verordnungen. Weniger tun dies beispielsweise Menschen mit einer Neigung zu Verschwörungstheorien, gelangweilte oder auch risikofreudige Personen.
Außerdem zeigt die Forschung, dass demografische Charakteristika dafür ausschlaggebend sind, ob sich jemand an die bestehenden Maßnahmen hält oder nicht. So halten sich Frauen oder etwa ältere Menschen stärker an die Maßnahmen als Männer und Jugendliche. Auch bestimmte soziale Parameter und Lebensumstände machen es leichter, den Maßnahmen Folge zu leisten. Zum Beispiel ist es für Menschen, die in Serviceberufen arbeiten, schwieriger, gebührende Abstände zu anderen zu wahren. Außerdem sind sozioökonomisch benachteiligte Gruppen stärker auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen. Die Studien zeigen nicht nur, wer sich an die Maßnahmen hält und wer nicht, sondern auch, wer sich leichter daran halten kann und wer dabei strukturellen Hindernissen ausgesetzt ist. Sie machen deutlich, dass das Einhalten der Maßnahmen nicht unbedingt eine persönliche Entscheidung ist.
Warum Menschen bestimmte Dinge tun oder nicht
In unserer Interviewstudie "Solidarität in Zeiten einer Pandemie – Was machen Menschen und warum?" rücken wir unter anderem die Frage in den Mittelpunkt, was das Befolgen von Maßnahmen für die davon Betroffenen überhaupt bedeutet. Statt zu fragen, wer Regierungsmaßnahmen befolgt und wer sie befolgen kann, fragen wir, welche Bedeutung Menschen den Maßnahmen in ihrem Leben geben. Aus diesem Blickwinkel ist es besser möglich zu verstehen, warum Menschen bestimmte Dinge tun und andere nicht. Dabei gehen wir davon aus, dass alltägliche Praktiken eng mit persönlichen Werten verknüpft und von diesen geformt werden.
Die Frage nach der Bedeutung von Maßnahmen im Kontext der jeweiligen Lebensrealität lenkt den Blick auf das Zusammenspiel diverser Handlungen und Werte. Sie zeigt, dass das Einhalten beziehungsweise Nichteinhalten vielschichtig ist und sich in vielen Fällen einer eindeutigen moralischen Einteilung in "richtig" und "falsch" entzieht. Viele Menschen, mit denen wir im Rahmen unserer Studie gesprochen haben, berichteten davon, wie sie mit den Maßnahmen umgehen und diese in ihren Alltag integrieren (oder nicht). Was sie beschreiben, bricht mit Schwarz-Weiß-Unterteilungen in Menschen, die die Maßnahmen befolgen, und jene, die das nicht tun.
Zum Beispiel erzählte uns eine ältere Frau zu Beginn der Pandemie, dass sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln – damals untersagte – Ausflüge ins Grüne unternahm, um sich von einer Verletzung zu erholen. Eine Mutter berichtete, dass sie auf die Kinder ihrer Nachbarin aufgepasst hat, sodass diese einkaufen gehen kann. Obwohl dies gegen die damalige Regelung zur Zusammenkunft verschiedener Haushalte verstieß, rechtfertigte sie die geteilte Kinderfürsorge damit, dass das Virus durch weniger Personen im Supermarkt sich langsamer verbreiten würde.
Kein "gutes" Befolgen und "schlechtes" Widersetzen
Diese Beispiele zeigen, dass das Befolgen von Regierungsmaßnahmen im Alltag – und im konkreten Fall Gesundheitsschutz – oftmals etwas anderes bedeutet als auf dem Papier. So wägen Menschen den Wert verschiedener Formen von Gesundheit miteinander ab oder treffen eigene Einschätzungen darüber, wie sie am besten zur Eindämmung der Pandemie beitragen können. Eine Einteilung in "gutes" Befolgen und "schlechtes" Widersetzen geht damit oftmals am Erleben und Leben in der Pandemie vorbei.
Die Fragen danach, wer bestimmte Corona-Maßnahmen einhalten kann und was diese in der alltäglichen Realität der Menschen bedeuten, kann dazu beitragen, eine polarisierte Debatte zu nuancieren. Sie zeigen, dass bestimmte Verhaltensweisen in der Pandemie oft die Produkte sozialen Handelns sind und im Kontext der Lebensrealität von Menschen meist Sinn ergeben. Gerade in der aktuellen Debatte über die Steigerung der Impfquote könnte ein solcher Ansatz, der Menschen und ihr Verhalten verstehen will, ohne dieses gleich moralisch zu beurteilen, gesellschaftlichen Zusammenhalt stützen.
Wanda Spahl ist Universitätsassistentin und Doktorandin in der Forschungsgruppe "Zeitgenössische Solidaritätsstudien" am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Zudem forscht sie seit März 2020 in der qualitativen Interviewstudie "Solidarität in Zeiten einer Pandemie – Was machen Menschen und warum?".