Wer darf müde sein?

Die "neue Normalität" der Pandemie ist altbekannt für chronisch Kranke

Als Long-Covid Symptom wird dem Erleben einer alles durchdringenden Müdigkeit unter dem Begriff fatigue seit ein paar Monaten erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Rund um die Eröffnung der ersten Long-Covid/Post-Covid Ambulanz im AKH Wien wurden die möglichen gesundheitlichen Konsequenzen einer zurückliegenden Covid-19 Infektion in diversen Informationskanälen verstärkt thematisiert. Begriffe wie fatigue (für extreme Müdigkeit und Erschöpfung) und brain fog (für einen „Nebel im Gehirn“ mit u.a. Konzentrationsstörungen) wurden geläufig, aber auch der Umgang mit dem Verlust oder zumindest dem Einbüßen von Geruchs- und Geschmackssinn als Teil einer Long-Covid Symptomatik drangen vermehrt ins öffentliche Bewusstsein.

 

Dies wurde auch in unserem Forschungsprojekt[1] deutlich, das wir gemeinsam mit Menschen mit seltenen Erkrankungen machen: in unseren qualitativen Interviews zu den Erfahrungen von chronisch kranken Menschen während der Covid-19 Pandemie spielt dieses Sichtbarwerden eines medizinischen Begriffes wie fatigue eine große Rolle, wohl auch weil sie für viele Menschen mit seltenen Erkrankungen nichts neues darstellt.

 

Durch die Pandemie geraten Erfahrungen und Erlebnisse in den Mittelpunkt, die das Leben von vielen Menschen mit chronischen und/oder seltenen Erkrankungen schon länger abseits der Öffentlichkeit prägen: Erschöpfung, diffuse Symptome, wenig biomedizinische Anhaltspunkte und ganzheitliche Erklärungen, kaum diagnostische Handhabe und dadurch allgemein mangelhafte medizinische Anerkennung. Und, man muss es leider auch so sagen, ohne medizinische Anerkennung gibt es insgesamt auch wenig gesellschaftliche Anerkennung des Leid und des Leidens. All das war für viele schon vor der Pandemie Alltag. Covid-19 verstärkt zwar eine Problemwahrnehmung für diffuse gesundheitliche Probleme wie fatigue oder brain fog, allerdings als Konsequenz dieser einen spezifischen viralen Infektion.

 

Die zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Behandlung der sich immer stärker abzeichnenden Spätfolgen von Covid-19 sind einerseits eine begrüßenswerte gesundheitspolitische Anerkennung: so werden unterschiedliche Gesundheitsprobleme, die sich einer biomedizinischen Eindeutigkeit entziehen, gesamtgesellschaftlich ernst genommen. Auf der anderen Seite werden aber die Erfahrungen dieser Symptome abseits von Covid-19 ignoriert. Für Menschen mit chronischen Erkrankungen führt das zu viel Frustration gegenüber der pandemischen „Normalgesellschaft“. So ist das Erleben von fatigue für Menschen mit chronischen Krankheiten schon lange oftmals Teil ihres Alltags, um die herum das Leben organisiert werden muss. Dass fatigue als Krankheitserscheinung ernst genommen wird ist ein enorm wichtiger Schritt. Dennoch ist der Frust über die Einengung, wo und wann sie medizinisch ernstgenommen wird und behandelbar ist, sehr verständlich.

 

Die „neue Normalität“ im Zeichen der Pandemie stellte vor allem für vormals gesunde Menschen einen abrupten Bruch dar. Für chronisch kranke Menschen waren viele Aspekte des beschränkten und eingeschränkten pandemischen Alltags schon davor alltäglich und normal, bloß ohne die gesellschaftliche Anerkennung des Krisenmodus. Das bedeutet vor allem kaum politische und wirtschaftliche Aufmerksamkeit für chronische Dauerbelastungen.

 

Covid-19 und das pandemische Ausmaß wird die Auseinandersetzung mit chronischen Erkrankungen dringlicher machen; solche „undichte Stellen“ im gesellschaftlichen Zusammenleben, die vormals nur mit behelfsmäßigen Maßnahmen überdeckt wurden treten nun ganz deutlich hervor. Die große gesellschaftliche Nivellierung durch die gemeinsame und geteilte pandemische Erfahrung blieb erwartungsgemäß aus. Die Auswirkungen von Covid-19 auf die Menschen sind etwa abhängig von Geschlecht und damit einhergehenden spezifischen Beschäftigungsorten und -arten, finanziellen Verhältnissen oder eben auch den schon vor der Pandemie chronischen gesundheitlichen Belastungen. Das Durchleben der Krise ist eben doch von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig. Es ist wichtig, sich diese multiplen Erfahrungen und Erlebnisse immer wieder zu verdeutlichen. So sollte der Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven und Auswirkungen, medial, politisch und gesellschaftlich nicht verstellt werden: aus den Gesprächen mit Menschen mit seltenen Erkrankungen können wir viel davon lernen, wie sich das Leben in fragilen körperlich-gesundheitlichen Zuständen gestalten kann und Unsicherheiten im und durch das medizinische System begegnet werden (müssen). Gerade in Zeiten, in denen Covid-19 die Angreifbarkeit und Unsicherheit von (objektiv-medizinischen) Wissen verdeutlicht, kann das eine hilfreiche Orientierung sein. Menschen mit seltenen Erkrankungen navigieren mit viel Expertise, Körpergefühl und -wissen durch das medizinische System und sind mit vielen körperlichen, aber auch systemischen Problematiken, die Covid-19 nun in ihrer Breite offenlegt, bestens vertraut.

 

Und dennoch, die Vorhersehbarkeit der Krisen blieb unerhört: während die einen die Öffnungen als ein Zurück in eine alte Normalität erleben können, kämpfen die anderen gegen die Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung. Für viele Menschen mit chronischen und seltenen Erkrankungen aber gilt: die geteilte Normalität während der allgemeinen Krise, in der alle zuhause bleiben, sich schützen und Rücksicht genommen haben, ist vorbei. Menschen mit chronischer Erkrankung sind damit wieder alleine (gelassen). Ebenso wenig stehen die Ressourcen, die ohnehin nicht mal den Bedarf der Long-Covid PatientInnen decken können, trotz gleicher Symptome anderen Krankheitsformen zur Verfügung.

 

Fatigue als medizinische Diagnose etwa braucht auch über Long-Covid hinaus eine ernsthafte Auseinandersetzung und Anerkennung. Wir müssen die fatigue in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen und Konsequenzen verstehen, um den betroffenen Menschen helfen zu können, aber auch, um als Gesellschaft auf die Veränderungen, etwa in der Arbeitswelt, reagieren zu können.


[1] in Kooperation mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für seltene und nicht diagnostizierte Erkrankungen unter dem Titel „The political economy and ethics of rare diseases research in Austria and beyond“: https://rud.lbg.ac.at/de/bioethics