Solidarität braucht Pflege, um zu blühen: Lehren aus der Covid-19 Pandemie

Solidarität: Was ist das? Und wie können wir Solidarität unterstützen und erhalten, in Krisenzeiten, aber auch darüber hinaus?

 

 

Dies sind zentrale Fragen, denen wir in unserer neuesten Veröffentlichung der Studie Solidarität in Zeiten einer Pandemie (SolPan) nachgegangen sind. Solidarität war in der Pandemie in aller Munde. Aus Solidarität mit unseren Mitbürger:innen sollten wir uns an Lockdowns halten, andere durch Kontaktbeschränkungen und das Tragen von Mund- und Nasenschutz schützen, und aus Solidarität vulnerablen Gruppen gegenüber sollten wir uns impfen lassen. Aber wie hat sich Solidarität abseits dieser Appelle im Alltag der in Österreich lebenden Menschen entwickelt? Wie hat sie sich während der Pandemie bemerkbar gemacht - oder auch nicht? 

Mit diesen und anderen Fragen haben wir uns im Rahmen einer Interviewstudie auseinandergesetzt, deren Ergebnisse in der Fachzeitschrift Medical Humanities veröffentlicht wurden. Solidarität wird hier - der Definition von Barbara Prainsack und Alena Buyx folgend - als Praxis verstanden, mit der Menschen ihre Unterstützung für andere ausdrücken, mit denen sie sich auf eine für die konkrete Situation relevante Weise verbunden fühlen. Rein rhetorische Solidaritätsbekundungen reichen also laut dieser Definition nicht aus, um Solidarität als in der Politik oder Gesellschaft verankert anzusehen. Für die Publikation wertete das SolPan Team, geleitet von Barbara Prainsack, Gertrude Saxinger und Katharina Kieslich an der Uni Wien, zusammen mit Partner:innen an anderen europäischen Universitäten, insgesamt 643 Interviews aus 10 Ländern (Österreich, Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Irland, Italien, Niederlande, Portugal, und Schweiz) und drei Phasen (März und April 2020, Oktober 2020, und Oktober 2021) aus. In diesem Blog berichten wir über Interviews aus den ersten und zweiten Interviewphasen (Portugal war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Studie). 

 

Auch Regelbrüche können solidarisch sein

In der ersten Interviewphase bezogen sich solidarische Handlungen häufig auf die  Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Viele Interviewteilnehmer:innen berichteten, dass sie Regeln einhalten, um insbesondere vulnerable Personen zu schützen - auch jene, denen man die Vulnerabilität vielleicht nicht ansieht. Viele betrachteten die Einhaltung dieser Regeln als solidarische Praxis. Gleichzeitig manifestierte sich solidarische Praxis in manchen Fällen auch im Brechen von Regeln: so berichteten uns einige Interviewpartner:innen, dass sie Regeln brachen, um sich etwa um alleinstehende Nachbar:innen zu kümmern. Hier wurden Regelbrüche also als gerechtfertigt gesehen, während Regelbrüche in anderen Situationen als höchst unsolidarisch angesehen wurden. Z.B. erzählte uns eine Person in Österreich, dass ihre Nachbarn während der Lockdowns viele Parties organisierten; ihre Schwester arbeitet als Krankenschwester: “...in diesem Moment war ich so sauer…weil ich gedacht habe, warum muss sich meine Schwester dann um solche Idioten kümmern [wenn sie krank werden]...so ein unsolidarisches Verhalten nervt mich echt”. Entscheidend dabei war, ob das Verhalten aus vermeintlich “egoistischen” Motiven oder mit dem Ziel durchgeführt wurde, andere zu unterstützen.

Interessant war, dass Personen solidarische Handlungen im persönlichen oder nachbarschaftlichen Umfeld in späteren Phasen der Pandemie weniger wahrnahmen. Das heißt nicht, dass Solidarität insgesamt zurückging, sondern dass sich die Formen von Solidarität veränderten. Dies führte zu einer bemerkenswerten Entwicklung in unseren Interviews:  In der zweiten Interviewphase wünschten sich befragten Personen mehr ‘institutionalisierte’ Solidarität in der Form von Unterstützung von staatlicher und öffentlicher Seite. Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, eine bessere Unterstützung für Selbstständige oder umfassendere Gesundheits- und Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche wurden hier beispielhaft erwähnt.

Solidarität ist also kein Selbstläufer. Im Kleinen geschieht sie manchmal fast unbemerkt, insbesondere in Krisenzeiten. “Kleine” solidarische Handlungen - wie sie direkt von Mensch zu Mensch stattfinden (interpersonale Solidarität) - sind jedoch für viele Menschen schwierig aufrechtzuerhalten, wenn sie nicht ausreichend soziale, wirtschaftliche, und auch psychologische Unterstützung haben (institutionelle Solidarität). An dieser Stelle werden häufig Missstände im gesellschaftlichen oder politischen Alltag sichtbar. Hier ist auch der Staat gefragt. Solidarität braucht Pflege, um zu blühen. Wenn also, wie von der Bundesregierung in Österreich angekündigt, Lehren aus der Pandemie gezogen werden sollen, dann sollte eine Lektion sein, dass die Bevölkerung ein Bedürfnis nach mehr institutionalisierter Solidarität hat, wie unsere Forschungsergebnisse zeigen.

 

 

Zwei Hände fassen sich und halten eine gelbe Blume

Bild: pixabay