Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit: Wie sich solidarisches Handeln während der COVID-19 Pandemie in Deutschland veränderte

 

Während der COVID-19 Pandemie haben Wissenschaftler:innen und politische Entscheidungsträger:innen immer wieder an die Solidarität appelliert, um die Bevölkerung zur Einhaltung von Schutzmaßnahmen zu motivieren. Je länger die Pandemie andauerte, desto mehr wurden jedoch die Grenzen der Solidarität deutlich. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Solidarität in Zeiten einer Pandemie“ (SolPan) hat unser Team drei Mal über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren Interviews mit 46 Erwachsenen in Deutschland durchgeführt. Wir wollten wissen, wie die Menschen die Pandemie in ihrem Alltag erlebten, wie sie sich verhielten und warum.

Dabei stellten wir fest, dass in Deutschland – wie auch in anderen europäischen Ländern – die Solidarität eine tragende Rolle bei der Krisenbewältigung der Pandemie spielte. Gleichzeitig wurde aber auch ein verändertes Verhalten und Bewusstsein in der Bevölkerung deutlich: Während solidarisches Handeln in den ersten Interviews sehr prominent diskutiert und positiv bewertet wurde, ließ diese anfängliche Begeisterung in den folgenden Interviews nach. Mit dem Fortschreiten der Pandemie unterstrichen die Befragten immer mehr die hohen individuellen und sozialen Kosten, die sie auf sich nehmen mussten, um sich und andere zu schützen. Dazu gehörte, dass man Familienmitglieder nicht besuchen durfte, die Kinder nicht in die Schule oder in den Kindergarten bringen oder seinen Hobbies nicht wie gewohnt nachgehen konnte. Auch verschwanden zwischen April und Oktober 2020 zunehmend die zu Beginn sprießenden Solidaritätsinitiativen, wie beispielsweise Angebote füreinander einkaufen zu gehen.

 

Entsprechend teilten uns viele TeilnehmerInnen mit, dass sie sich mit fortschreitender Pandemie zunehmend auf ihr unmittelbares Umfeld, d. h. auf die Familie, Freunde oder die wichtigsten Nachbar:innen konzentrierten. Die Solidarität konzentrierte sich damit immer mehr auf das Umfeld, von dem man selbst im Notfall Unterstützung erwarten konnte.

 

Trotzdem betrachteten die Teilnehmer:innen Solidarität weiterhin als wichtig für die Bewältigung der Pandemie. Sie forderten in späteren Pandemiephasen vermehrt, dass wissenschaftliche Einrichtungen, Behörden und einzelne politische Entscheidungsträger nicht ausschließlich auf individuelle Solidarität pochen sollten, sondern diese Solidarität auch durch politische Massnahmen gelebt werden müsste. Insbesondere Politiker:innen sollten ein Umfeld schaffen, dass es Personen im Alltag ermöglichen oder erleichtern würde, sich solidarisch zu verhalten.

 

Im Verlauf unserer Studie veränderte sich für die Teilnehmer:innen außerdem das Empfinden, wer alles durch die Pandemie geschädigt wurde. Hierzu gehörten in späteren Pandemiephasen nicht mehr nur die älteren Bevölkerungsgruppen, sondern auch Kinder, Jugendliche, Pflege- und Krankenhauspersonal sowie Personen in der Kunst und in der Kultur, Selbstständige und kleinere Betriebe. All diesen Menschen wurde, nach Einschätzung unserer Befragten, zu wenig Solidarität von Seiten der Behörden oder bei Beschlüssen entgegengebracht. Unsere Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass sich Sozialmaßnahmen, wie zum Beispiel finanzielle Entlastungen, nicht an alle richten müssen, sondern hauptsächlich an diejenigen, die als besonders belastet wahrgenommen wurden.

 

Unsere Arbeit zeigt auf, dass sich das kollektive solidarische Verhalten besonders zu Beginn positiv auf die Motivation der Menschen ausgewirkt hat, sich vor einer COVID-19 Ansteckung zu schützen. In zukünftigen Krisen ist es deswegen wichtig, diese kollektive Solidarität auch längerfristig zu stärken. Zum Beispiel können Maßnahmen zur Unterstützung von  wahrgenommen benachteiligten Bevölkerungsgruppen  (wie zum Beispiel Kinder oder Menschen in betreuten Einrichtungen) auch die Motivation zum solidarischen Verhalten Einzelner stärken. Die Menschen möchten sehen, dass staatliche Einrichtungen einen Beitrag zur Solidarität leisten und sich nicht nur auf die Solidarität einzelner Personen im menschlichen Miteinander verlassen. Solidarität scheint entsprechend länger anzuhalten, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie auf Gegenseitigkeit beruht.

Blue background with earth shaped as a coronavirus in the center

Pixabay: Miroslava Chrienova