Der Wunsch nach globaler Bürger*innenschaft

Wie Menschen in Lateinamerika und Europa während der COVID-19 Pandemie nationales Grenzdenken überwunden haben

Isabella M. Radhuber, Wanda Spahl, Michael D. Hill | 22.11.2023

 

[Ich denke] dass wir eine Welt der [globalen] Solidarität sein sollten und dass wir verstehen sollten, dass das Leben und die Welt sich nur selbst erhalten können, wenn wir gerechter sind und uns mehr unterstützen. Und wenn wir uns gegenseitig unterstützen, können wir das tun. Der Reichtum konzentriert sich zu sehr auf wenige und Elend und Armut werden aufrechterhalten. Und das schadet sehr. (Interviewte Person aus Ecuador, 2021)

Zu Beginn der Pandemie riefen Regierungen und internationale Organisationen uns alle dazu auf, weltweit zusammenzustehen. So erklärte WHO-Direktor Tedros Adhanom, dass das Coronavirus ein Test für die globale Solidarität sei. Obwohl die ersten politischen Reaktionen auf die Pandemie sehr stark national geprägt waren, haben die Menschen die globalen Dimensionen der Pandemie in ihrem Alltag erlebt. Diese Studie fragt, wie die Menschen mit dem globalen Charakter der COVID-19-Pandemie umgegangen sind. Dazu analysierten wir 493 qualitative Interviews, die zwischen April 2020 und November 2021 in Argentinien, Österreich, Bolivien, Ecuador, Irland, Italien und Mexiko geführt wurden.  

Als klar wurde, dass COVID-19 nicht an den Grenzen Chinas Halt machen würde, sahen viele Menschen in den nationalen Abriegelungen zunächst eine sinnvolle Maßnahme, um sich und ihre Angehörigen vor den Gefahren durch das neuartige Virus zu schützen. Eine Person aus Irland kritisierte beispielsweise, dass in der Anfangsphase der Pandemie ein wichtiges Rugbyspiel mit Italien abgesagt wurde, die Grenze aber nicht geschlossen wurde und italienische Fans weiterhin nach Irland einreisen durften. Dieser Kritiker betonte dabei, dass es ihm nicht im fremdenfeindlichen Sinne um den Ausschluss von Italiener*innen ging. Vielmehr störte er sich an der Widersprüchlichkeit der eingesetzten Maßnahmen.

In den ersten 18 Monaten der Pandemie (d. h. im Vergleich des Zeitraums April-November 2020 zu Juli-November 2021) haben sich die Erfahrungen unserer Befragten jedoch verändert. Die durch die Grenzschließungen verursachten Unannehmlichkeiten traten allmählich in den Vordergrund. So war es in etwa schwer für betroffene Menschen, für eine längere Zeit von ihren Angehörigen getrennt zu sein. Oft wurde sich auch darüber gesorgt, wer sich um Personen kümmert, die außerhalb ihres eigenen Landes waren:

Wie die Haitianer, die nach Südamerika gegangen sind und von Südamerika nach Mexiko gekommen sind, und leider stellen wir fest, dass sie schlecht behandelt werden, anstatt dass ihnen geholfen wird. (Interviewte Person aus Mexiko, 2021)

Darüber hinaus machte die fortschreitende Pandemie den Befragten zunehmend bewusst, wie sie selbst in einer sehr ungleichen Welt positioniert waren - ungleich in Bezug auf globale Gesundheitsdynamiken wie in etwa die Verteilung von Impfstoffen, aber auch in Bezug auf Bildungschancen, wirtschaftliche Teilhabe und Wohlstand.

Die von uns interviewten Personen begannen dann eine neue Normalität zu beschreiben: Sie beschrieben das Gefühl einer globalen Verbundenheit über Nationalgrenzen hinweg. In unserer Studie identifizieren wir alltägliche Praktiken der Grenzziehung und der Entgrenzung. Wir zeigen, dass Grenzen dabei nicht nur territorial und institutionell verlaufen, sondern auch im Leben der Menschen, die diese durch ihre täglichen Handlungen neu ziehen, verlagern oder abbauen. Die Menschen machten sich beispielsweise Sorgen um andere, denen es schlechter ging, sorgten sich um Migrant*innen, denen es an angemessener Unterstützung fehlte, und beschrieben ihre eigene Identifikation mit mehr als einer Regierung in den Grenzregionen. Durch diese Praktiken verbanden sie sich während der COVID-19 Pandemie mit anderen Menschen auf der Welt oder distanzierten sich von ihnen.

Unsere Befragten sprachen häufig über Nord-Süd-Grenzen, wobei diese manchmal legitimiert und in vielen Fällen aber auch kritisiert wurden. Dabei beschrieben viele, dass die Verfestigung dieser Grenzen in der politischen Praxis die durch den Kolonialismus geprägten Ungleichheiten fortsetzen würde. Vor dem Hintergrund, wie COVID-19 verschiedene Orte in der Welt wieder miteinander verbunden hat, äußerten viele den Wunsch nach verstärkter internationaler Zusammenarbeit und manche sogar nach einem Weltbürger*innenschaft. Eine interviewte Person aus Irland formulierte dabei das Konzept der “Krisenbürgerschaft”, das über die nationale Zugehörigkeit hinausgeht. Diese Person schlug ein Modell für die bedarfsgerechte Verteilung von Impfstoffen vor, das unabhängig von der geografischen Lage oder der Staatsangehörigkeit funktionieren würde:

Wir sollten sagen, dass wir weltweit wollen, dass alle Beschäftigten im Gesundheitswesen und alle gefährdeten Personen den Impfstoff erhalten. Egal, ob man sich in einem wohlhabenden oder in einem armen Land befindet, die Kriterien sollten dieselben sein. Sobald diese Menschen geimpft sind, sollten wir eine zweite Stufe einlegen und uns vielleicht die über 60-Jährigen und die über 50-Jährigen ansehen und sie zunehmend je nach Bedarf impfen. Aber es sollte auf globaler Basis geschehen, und es sollten die gleichen Kriterien gelten, ob man in Amerika oder Irland lebt, oder ob man in Ghana oder Sierra Leone lebt. (Interviewte Person aus Irland, 2021)


Diese Studie wurde in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht: 

Radhuber, I.M., Fiske, A., Galasso, I., Gessl, N., Hill, M.D., Morales, E.R., Olarte-Sánchez, L.E., Pelfini, A., Saxinger, G., Spahl, W. (2023) Toward global citizenship? People (de)bordering their lives during COVID-19 in Latin America and Europe. Global Public Health, http://dx.doi.org/10.1080/17441692.2023.2285880 

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