Eine explorative Studie, die ich im Rahmen meines Studiums der Politikwissenschaft an der Universität Wien durchgeführt habe, untersuchte, wie Stammgäste in Wiener Beisln mit den neuen Gegebenheiten umgegangen sind und welche Auswirkungen diese auf sie und ihre Gewohnheiten hatten. Die Daten basieren auf qualitativen Interviews mit Stammgästen sowie auf Beobachtung der Szene, um herauszufinden wer Teil davon ist. Mit einer an der Constructivist Grounded Theory angelehnten Methode wurde das Datenmaterial analysiert.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer fanden sehr schnell eine Alternative zu ihren „Stammbeisln“. Einerseits rückten dabei die eigene Familie und Aktivitäten in der Natur in den Fokus, andererseits fand man rasch alternative Orte um einander weiterhin zu treffen. Dies war einmal ein überdachter Platz, welcher neben dem eigentlichen Stammlokal liegt und der regelmäßig von den Stammgästen besucht wurde. Ein anderes Mal hat das Stammlokal einfach „schwarz“, also inoffiziell, weiter seine Pforten geöffnet, jedoch nur für einen kleinen Kreis von Stammgästen. In beiden Fällen ist hier das Verhältnis unter den Stammgästen enger geworden und wurde sogar als familiär bezeichnet. Der Freundeskreis wurde für viele kleiner, da sich manche Bekanntschaften verliefen, welche nicht unmittelbar im wohnlichen Umfeld gelegen sind. Jedoch wurden die bestehenden Freundschaften vertieft, was die Studienteilnehmer*innen als etwas Positives betrachten.
Ein weiteres Ergebnis betrifft die finanzielle Situation der Befragten. Diese hatte sich in allen Fällen verbessert, weil weniger Geld für das „Fortgehen“ ausgegeben wurde, und die Alternativen in der Regel günstiger waren. Diese Ersparnisse wurden sodann für andere Dinge genutzt, wie für die Renovierung der Wohnung oder die des Gartens, aber auch für die Familie. Somit brachte die Pandemie nicht zwangsläufig für alle Menschen eine negative finanzielle Situation mit sich.
Eine Gemeinsamkeit, die sich durch alle Interviews zog, war der Frust über die ständige Berichterstattung zum Thema Corona. Dies wurde teilweise als lästiger oder belastender betrachtet als die eigentliche Situation. Sowohl die Häufigkeit als auch die Art der Berichterstattung schlug gleichermaßen auf die Gemüter. Die Ungewissheit über die weiteren Corona-Eindämmungsmaßnahmen beschäftigte die Menschen in den Interviews sehr. Nicht die Maßnahmen an sich waren das Problem – mit diesen hatte man sich arrangiert –, sondern das Fehlen einer klaren politischen Linie und die Ungewissheit, welche Maßnahmen in Zukunft kommen werden. Diese fehlende Planungssicherheit wirkte sich negativ auf alle Befragten aus; sowohl auf ihre Laune als auch auf die Qualität ihrer sozialen Kontakte.
Durch die Lockdowns haben Menschen neue Hobbys und Routinen ausgebildet. Eine Person begann Sprachen zu lernen, was sie zuvor schon Jahre vor sich hergeschoben hatte. Nun gab es mehr Zeit und weniger Ablenkungen. Bei einer anderen Frau hat sich aus dem gelegentlichen Mitbringen selbstgemachter Speisen zum Treffpunkt außerhalb des Stammbeisls, das regelmäßige Bekochen der alleinstehenden Pensionisten in der Gruppe entwickelt. So kommt sie heute jeden Tag um dieselbe Uhrzeit ins Lokal und bringt den Pensionisten ein warmes Mittagessen, welches diese am Vortag bei ihr bestellt hatten.
Aus den Studienergebnissen geht hervor, dass nicht das „social distancing“ ursächlich für Verstimmungen war, sondern vielmehr ein Mix aus Faktoren: die Ungewissheit über den zukünftigen Verlauf von Maßnahmen und Einschränkungen, die intensive Medienberichterstattung sowie ein subjektives Fehlen von Freiheitsgefühl, welches die Lockdowns verursacht haben.
Das Phänomen des social distancing zeigte sich als sehr facettenreich. Überraschend waren die Ergebnisse in Bezug auf das schnelle Finden von Alternativen zu den geschlossenen Lokalen sowie der gesteigerte Zusammenhalt der Stammgäste untereinander. Beides sind Anzeichen dafür, dass der eigentliche Zweck der Lockdowns, also die Kontaktreduzierung, zumindest bei der in dieser Studie untersuchten Gruppe nur bedingt erreicht werden konnte.
Als Schlussfolgerung zeigt sich, dass man mit den richtigen Gegenmaßnahmen und Angeboten, negative Auswirkungen von Lockdowns geringhalten kann. Diese Lockdowns haben auch nicht überall denselben Effekt, die TeilnehmerInnen dieser Studie haben ihre Kontakte kaum beschränkt und lediglich den Bekanntenkreis etwas verkleinert. Bei allen Betroffenen war die negative Wahrnehmung der Kommunikation der Regierung sehr präsent. Deren fehlende Konsistenz und scheinbare Willkür der Maßnahmen hat bei allen Befragten zu Frustration geführt und dazu, dass auch die Maßnahmen weniger ernst genommen wurden. Dies zeigt, wie wichtig ein geplantes Vorgehen und das richtige Kommunizieren desselben ist, um den Menschen während einer Pandemie ein Gefühl der Sicherheit geben zu können und dafür sorgen zu können, dass wichtige Maßnahmen auch eingehalten werden.