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Biosoziale Pandemie-Bürgerschaft? Wie die COVID-19 Krise das Verhältnis von Staat und Bürger*innen in Österreich veränderte.

“Ich finde die Diskussion über diese Krise sehr spannend, weil sie so viele Lebensbereiche betrifft, ja? Weil alles politisch manövriert werden muss, weil so viele Bereiche des Lebens betroffen sind.” (Frau in einer österreichischen Stadt, April 2020)

Diese Worte einer jungen Frau nahmen bereits zu Beginn der Ausbreitung des Coronaviruses das umfassende Ausmaß der Krise vorweg. Politische Entscheidungsträger*innen waren gefordert, fast alle Bereiche des persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens zu regulieren. Da das Leben der Menschen plötzlich und in bisher unbekanntem Ausmaß von der Politik der Regierung beeinflusst wurde, bot die Pandemie die Möglichkeit zu untersuchen, wie die Menschen ihre Beziehung zum Staat erleben. Wie haben Menschen die politischen Maßnahmen im Zuge der COVID-19 Pandemie wahrgenommen und auf sie reagiert? Und wie hat dies die Beziehungen zwischen Staat und Bürger*innen beeinflusst? Um diese Fragen zu beantworten, analysierten wir 152 Tiefeninterviews mit Menschen, die in Österreich leben. Wir interviewten dieselben Personen im April 2020, direkt nach dem Beginn der Pandemie, und dann noch einmal im Oktober 2020.

In der Anfangsphase der Pandemie wägten die meisten Menschen gesundheitliche Aspekte gegen den Schutz der Wirtschaft ab. In dieser Phase dachten die meisten Menschen über ihre eigene Gesundheit und die der anderen in einem sehr engen Rahmen nach: In Übereinstimmung mit dem von der Regierungspolitik verfolgten Verständnis wurde Gesundheit vorrangig in ihrer körperlichen Dimension begriffen, und man hatte das Gefühl, dass diese durch das Virus beeinträchtigt werden könnte. Dieser Konsens löste sich jedoch in den folgenden Monaten allmählich auf. Im Oktober 2020 beklagten viele unserer Interviewpartner*innen die “Angstpolitik” der Regierung: Mehrere unserer Interviewten sahen den Einsatz von Angst als Mittel, um die Menschen zur Einhaltung politischer Maßnahmen zu bewegen, und waren darüber nicht glücklich. Andere wiederum sahen in der Angst eine legitime Strategie, um die Aufmerksamkeit auf die potenziell schwerwiegenden Folgen zu lenken. Die Teilnehmer*innen kritisierten, dass die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Gesundheit in erster Linie auf den Einzelnen abgewälzt wurde, und betonten, dass die Pandemie jeden unterschiedlich traf (z. B. Menschen mit Vorerkrankungen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen in beengten Wohnverhältnissen, Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen, Frauen mit Betreuungspflichten und Kinder). Das enge Verständnis von Gesundheit als “körperlich” wurde langsam durch Ansichten ergänzt, die die Bedeutung der sozioökonomischen Bedingungen anerkennen.

Diese breitere Anerkennung der Rolle sozioökonomischer Faktoren bei der Bewältigung der Pandemie führte zu höheren Erwartungen an die Regierung. Von den politischen Entscheidungsträger*innen wurde erwartet, dass sie nicht nur Gesundheitsschutz im engeren Sinne, sondern auch soziale, psychologische und wirtschaftliche Unterstützung im weiteren Sinne bieten. Damit formte sich, was wir als biosoziale Pandemie-Bürgerschaft, bezeichnen:  Unsere Interviewten erwarteten nicht nur medizinische, sondern auch psychosoziale und sozioökonomische Interventionen. Die entstandene biosoziale Pandemie-Bürgerschaft denkt staatliche Verantwortung neu: Die Menschen erwarteten vom Staat, dass er Rahmenbedingungen bereitstellt und schafft, die es den Menschen in Österreich ermöglichen, ein physisch, psychisch und wirtschaftlich gesundes Leben zu führen.


 

Diese Studie ist in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert:

Radhuber, I.M., Haddad, C., Kieslich, K., Paul, K.T., Prainsack, B., El-Sayed, S., Schlogl, L., Spahl, W., Weiss, E. (2023). Citizenship in times of crisis: biosocial state–citizen relations during COVID‑19 in Austria, BioSocieties, https://doi.org/10.1057/s41292-023-00304-z 

 

 

Reissverschluss auf gelb-rotem Hintergrund der aufgezogen wird und einen Covid-19 Schriftzug freilegt

Bild: Pixabay