Solidarisches Verhalten und seine Grenzen

Die Bedeutung von Solidarität während der COVID-19-Pandemie wurde von Politikern, Entscheidungsträgern und Massenmedien gleichermaßen betont. Dabei wurde die Notwendigkeit des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft zum Schutz von Risikogruppen und nationalen Gesundheitssystemen eingefordert.

In der vorliegenden Studie analysierten wir 77 qualitative Interviews mit Bürgern in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz zu solidarischem Verhalten und dessen Grenzen während des ersten COVID-19-bedingten Lockdowns im April 2020.

Wir stellten wechselseitige Abhängigkeit bei der zwischenmenschlichen, der gruppenbezogenen und der staatlichen Ebene der Solidarität fest, die uns Aufschluss darüber gaben, was solidarisches Handeln fördert und was nicht. Wir argumentierten, dass Solidarität keinen hinreichenden normativen Wert an sich darstellt und dass deswegen diejenigen, die Solidarität fördern wollen, die wechselseitigen Abhängigkeiten berücksichtigen müssten, um politische Maßnahmen effektiv umzusetzen.

Unsere Studie zeigte, dass die zwischengesellschaftliche Solidarität auf der Freiwilligkeit des Einzelnen beruht und durch die Anerkennung eines gemeinsamen Ziels, gemeinsamer Werte oder weiterer Gemeinsamkeiten, einschließlich gemeinsamer Anstrengungen, gefördert wird. Sie zeigte auch, dass die Individuen die staatlichen Behörden für dieselben Werte verantwortlich machen und von den verantwortlichen Autoritäten Entscheidungen erwarten, die zwischengesellschaftliche Reziprozität fördert.

Spannungen zwischen denjenigen, die sich freiwillig an die Empfehlungen halten und damit ein gemeinsames Ziel fördern, und denjenigen, die das nicht tun, stellten eine der Herausforderungen für die Solidarität dar. Eine weitere Herausforderung für solidarisches Verhalten bestand, wenn das Handeln für andere in direktem Konflikt mit den Bedürfnissen von nahestehenden Personen stand. So lieferte unsere Studie ein klareres Bild der förderlichen und hemmenden Faktoren für Solidarität, die bei der Vermittlung gesundheitspolitischer Maßnahmen an Einzelpersonen und Gruppen von Bedeutung sind.


Diese Studie wurde in englischer Sprache in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht:

Hangel, Nora; Schönweitz, Franziska; McLennan, Stuart; Fiske, Amelia; Zimmermann, Bettina & Alena Buyx (2022): Solidaristic behavior and its limits: A qualitative study about German and Swiss residents’ behaviors towards public health measures during COVID-19 lockdown in April 2020. SSM - Qualitative Research in Health Vol. 2/2022, 100051. 

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