In welcher Normalität wollen wir leben? Normalität(en) Revisited.

Wir müssen uns an das Virus gewöhnen. Statt soziale Ungleichheit zu verstärken, sollten wir solidarisches Miteinander fördern

Dieser Beitrag ist bereits am 31.03.2021 im Blog: Solidaritätsstudien in Der Standard erschienen.


Wir [1] gewöhnen uns langsam an die neue Normalität [2]. Auch wenn wir gerne Kultur- oder Sportveranstaltungen besuchen, die Eltern oder Großeltern umarmen, in einem Club tanzen, ein Schnitzel im Restaurant essen oder bei einem Bier anstoßen würden, sind soziale Isolation und Ausgangsbeschränkungen normal geworden. In zwei Interviewphasen der qualitativen Längsschnittstudie SolPan (Langer Titel: Solidarität in Zeiten einer Pandemie - Was machen Menschen und warum?) im April 2020 und Oktober 2020 wurden jeweils dieselben 80 in Österreich lebenden Personen zu ihrem Leben während der Pandemie befragt. Viele Interviewpartner:innen berichten, dass sich ihr Leben mit Corona normalisiert hat. Diese Erzählungen bilden die Grundlage für folgende Reflexion über Normalität(en). Sie werfen Fragen auf, woran wir uns gewöhnen müssen, woran wir uns nie gewöhnen sollten und woran sich eine Gewöhnung lohnen würde.

 

Eine andere Normalität leben: Vorteile von Corona [3]

Im Frühjahr 2020 berichteten viele Gesprächspartner:innen, dass die neue Normalität im Lockdown – neben den unweigerlichen Entbehrungen – Verbesserungen ihres gewöhnlichen Alltags brachte. Sie beschrieben, dass sie sich Zeit nehmen für Dinge, die ihrer Einschätzung nach vor der Pandemie zu kurz kamen, wie beispielsweise ein Buch zu lesen, Sport zu treiben, oder sich in Ruhe von einem Bandscheibenvorfall erholen. So schätzte es eine Mutter, mehr Zeit mit ihrer Tochter im Kindergartenalter zu verbringen: "Das Positive ist halt, wir kuscheln viel mehr im Bett und frühstücken ganz entspannt und ausgiebig, was es unter normalen Umständen nicht gibt." Es wurde darauf hingewiesen, wie anstrengend und überfordernd das alltägliche Leben vor dem Lockdown teilweise war.

“Ich würde eher sagen, dass es (der Lockdown) sich positiv ausgewirkt hat, weil ich eher sehr gestresst war in den letzten Monaten, und jetzt fährt die Welt irgendwie zurück, es ist eine Entschleunigung. Es fühlt sich gut an, einfach nicht ständig verpflichtet zu sein, irgendetwas zu tun”, so ein Interviewter.

Die erzwungene Entschleunigung wurde von vielen als wohltuend empfunden. Dies war der Fall für alle Lebensbereiche, vom Familien-, über das Arbeits- bis zum Sozialleben. Eine Pensionistin beschrieb regelrechte Erleichterung darüber, nicht mehr zu Konzerten zu gehen und Freundinnen und Freunde zu treffen. (Selbst auferlegte) soziale Verpflichtungen fielen weg. Diese Wahrnehmungen von Vorteilen der Pandemie öffnen den Blick dafür, dass Zeitdruck, Leistungsdenken und Stress zu oft unsere sozialen Beziehungen prägt – und damit andere Möglichkeiten bedeutungsvolle Beziehungen aufzubauen verstellt sind. Sie öffnen den Blick für die Möglichkeit einer anderen Normalität.

 

Verstärkten Problemen mit Solidarität begegnen

Neben den Vorteilen, die die neue Normalität bringt, hat sie natürlich auch viele neue Probleme geschaffen, beziehungsweise bestehende Probleme und gesellschaftliche Risse verstärkt. Dabei wurde bereits vielfach darauf verwiesen, dass die Pandemie bestimmte Gruppen härter trifft als andere und Ungerechtigkeit wächst [4]. Dazu gehören beispielsweise bestimmte Branchen wie die Gastronomie oder die Kultur, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen [5] oder Frauen, die Sorgearbeit auf sich nehmen [6]. Heute nicht überraschend folgte auf die epidemiologische Krise eine psychische Gesundheitskrise [7] und eine Wirtschaftskrise. Die neue Normalität ist die der Krise.

Einigen dieser Probleme wurde vor allem während des ersten Lockdowns im Frühling 2020 mit Unterstützung für Menschen in vulnerablen Positionen begegnet. Es wurden telefonische Dienste für Menschen angeboten, die sich einfach jemanden zum Unterhalten wünschen. Es gab organisierte oder persönliche Nachbarschaftshilfen, bei denen älteren und immunschwachen Menschen angeboten wurde, für sie Erledigungen und Einkäufe zu tätigen. Gesprächspartner:innen berichteten, durch diese Praktiken sozialen Zusammenhalt zu erleben, ebenso wie durch Solidaritätsbekundungen über Social Media oder das (auch kritisch beäugte) Klatschen für Verkäufer:innen und Menschen in Gesundheitsberufen. Durch die reduzierte Umweltbelastung wurde selbst ein Näherrücken an nicht-menschliches Leben wahrgenommen. Auch wurde Zusammenhalt darin erlebt, dass alle von den politischen Maßnahmen zur Viruseindämmung betroffen waren. Im Verlauf der Pandemie unterstützen staatliche Hilfsmaßnahmen besonders hart getroffenen Gruppen, wie etwa Künstler:innen.

 

Normalisierung bedeutet weniger Solidarität

Dieses Bild der solidarisierten Gesellschaft hat sich im Verlauf der Pandemie geändert. In der Interviewphase im Oktober 2020 berichten Menschen zwar noch von unterstützenden Praktiken, aber oft war auch die Rede davon, dass das „Gemeinschaftsgefühl“ abgenommen hat. Eine Frau mit fester Anstellung erklärte:

“Da (Frühling 2020) gab es dann die Bestrebungen, wir kaufen für euch ein, da gab es viele Aktionen aus der Zivilbevölkerung. Wo man das Gefühl hat, da ist jetzt so ein Zusammenrücken und man schaut, dass da gegenseitige Unterstützung passiert. (Als dann medial berichtet wurde), die Delphine kehren nach Venedig zurück, war dann ein, boah, wie gut tut das der Umwelt-Denken spürbar. Und wie dann die ersten Lockerungen da waren, ist es zumindest in meiner Wahrnehmung, recht schnell wieder weg. Da ist schon die Bequemlichkeit wieder im Fokus gestanden und dieses, ich bin mir selbst der Nächste.“

Für die soeben zitierte Frau verschwand das „Zusammenrücken“, weil Menschen „einfach konsum- und luxusverwöhnt“ als auch „bequem“ sind, und dabei kein Raum bleibt, um sich um Andere oder Umweltprobleme zu kümmern. Aber auch auf praktischer Ebene betrachteten manche Gesprächspartner:innen solidarische Praktiken  als zusehends obsolet und sahen deren Notwendigkeit nicht mehr. Es scheint, dass die Dringlichkeit vom ersten Lockdown nicht mehr spürbar war, und damit die Probleme Anderer nicht mehr präsent: “Wenn die Scheiße am dampfen ist, dann ist glaube ich der Zusammenhalt schon da. Aber sobald es wieder besser wird, vergisst man das halt auch schnell.“, erzählt in etwa eine Stadtbewohnerin. Ein älterer Mann berichtete: “Man hört nichts mehr darüber.“

Die Studienteilnehmer:innen betonten auch, dass die erlebte Zunahme im Gemeinschaftsgefühl und an unterstützenden Praktiken eine Ausnahme bildeten. Deren Abnahme bedeutet in den Worten einer Interviewten, “dass sich vieles normalisiert hat.“. Jemand Anderes berichtet: „In der ersten Phase, hat es eine größere gegenseitige Rücksichtnahme, eine noch größere Rücksichtnahme gegeben, sagen wir mal so. Das hat sich jetzt irgendwie wieder normalisiert“. Das heißt, was oft als gesellschaftliches Zusammenrücken beschrieben worden ist, wurde als das Außergewöhnliche wahrgenommen. Eine junge Frau beschrieb, es „hat sich wieder gelegt alles. Also ich habe jetzt grundsätzlich das Gefühl, die Menschen leben irgendwie schon so eher so wie vorher.“  Normalerweise, und das heißt, in der alten Normalität vor Corona aber auch nach einigen Monaten der Gewöhnung an das Leben mit Corona in der neuen Normalität, bildete gegenseitige Unterstützung in den Augen unserer Interviewten also die Ausnahme. Interviewte scheinen die Abnahme an Solidarität als Normalisierung wahrzunehmen: Sie beschreiben eine Gewöhnung an das Leben mit COVID-19. Mit der Gewöhnung werden durch die Pandemie verstärkte Probleme und verbreiterte gesellschaftliche Risse als gegeben hingenommen. Die Probleme und Risse waren zuvor normal und sind es jetzt. Vergrößerte Formen von Ungleichheit haben sich schlichtweg normalisiert

 

Woran wollen wir uns gewöhnen?

Wir mussten und müssen uns immer noch daran gewöhnen, mit Corona zu leben. Die Pandemie zwingt uns in eine neue Normalität, die voll ist mit epidemiologischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Herausforderungen. Interviews der Solpan-Studie im Herbst letzten Jahres zeigten, dass eine Normalisierung des Lebens mit dem Virus stattgefunden hat, was sich unter anderem in der Abnahme solidarischer Praktiken gezeigt hat. Statt aber schlichtweg hinzunehmen, dass die multiplen Krisen Ungerechtigkeit verstärkt haben, könnten wir uns an eine andere Normalität gewöhnen: Solidarische Praktiken zu Beginn der Pandemie zeigten, dass Menschen bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen und füreinander da zu sein. Menschen erkannten Vorteile ihres neuen Lebensalltags, der entschleunigt war oder mehr Zeit bot, bedeutungsvolle zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen. Die neue Normalität öffnet Räume des Wandels. Statt eine Gewöhnung an verstärkte Ungerechtigkeit zu sein, könnte Normalisierung eine Gewöhnung an bedeutungsvolle Beziehungen und solidarisches Handeln sein.

 


[1] Mit einem rhetorischen „Wir“ liegt es mir fern, unterschiedlichste Lebensrealitäten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ich benutze in diesem Blog-Post „Wir“, um hervorzuheben, dass momentan alle Menschen von der Pandemie betroffen sind. Ich möchte damit außerdem betonen, dass Menschen und ihr Zusammenleben immer nur in Relation zu Anderen begriffen werden können (z.B. Mackenzie, Catriona, and Natalie Stoljar, eds. 2000. Relational Autonomy: Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self. New York: Oxford University Press)

[2] Der Begriff der „neuen Normalität“ wurde zum Schlagwort der österreichischen Regierung, um das eingeschränkte Leben mit den Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 zu beschreiben. Vor der Pandemie wurde „neue Normalität“ im Zusammenhang mit Populismus Kritik genannt: Der österreichische Philosoph und Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits analysierte gesellschaftliche Umbrüche, exemplifiziert am politischen Populismus Trumps. Dabei stellte er die Frage, ob wir uns an diese – in seinen Augen dystopische – „neue Normalität“ gewöhnen wollen.

[3] Dieser Paragraph basiert auf einem Paper in progress von Wanda Spahl, Mirjam Pot und Katharina T. Paul (Working Title “Practices and meanings of (non-)compliance: Negotiating rule following, self-protection and solidarity during COVID-19 in Austria”).

[4] Zum Beispiel diskutiert Hetan Shah gesellschaftliche Herausforderungen im Kommentar "COVID-19 recovery: science isn’t enough to save us" in Nature am 23. Mai 2021.

[5] In einer Studie über eine muslimische Community in Großbritannien zeigen Hassan et al. (2021), dass Arbeitsbedingungen das Einhalten von physischer Distanz erschweren.

[6] Interview vom 23.02.2021 mit Barbara Rothmüller und Laura Wiesböck zur laufenden Studie „Intimität, Sexualität und Solidarität in der COVID-19 Pandemie“

[7] Craig Morgan und Nikolas Rose: A mental health epidemic caused by coronavirus can be avoided if we act now. Independent. 10.10.2020.

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