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Vom neuen Miteinander bis zur Erschöpfung: Wie sich der Corona-Diskurs wandelte

Seit Anfang November 2020 befindet sich Österreich aufgrund der COVID-19 Pandemie im zweiten “Lockdown”. Die Restriktionen sind bisher (noch) nicht so weitreichend wie im Frühling. Doch abermals befinden wir uns alle in einer außergewöhnlichen und belastenden Situation, in der unser Alltag von unterschiedlichen Herausforderungen, und mitunter emotionalen Auswirkungen, dieser Krise gefärbt ist.

von Katharina KieslichSeliem El-Sayed, Christian Haddad, Katharina T. Paul, Mirjam Pot, Barbara Prainsack, Isabella Radhuber, Lukas Schlögl, Wanda Spahl, Elias Weiss

Vor diesem Hintergrund führt das Team der Forschungsgruppe ‚Zeitgenössische Solidaritätsstudien‘ (CeSCoS) der Universität Wien seit April 2020 eine qualitative Interviewstudie durch (Titel der Studie: Solidarität in Zeiten einer Pandemie - Was machen Menschen und warum? Kurz: SolPan). Wir versuchen zu erfahren, wie Menschen in Österreich mit den Einschränkungen und Herausforderungen während der Pandemie umgehen. In zwei Interviewphasen (Phase 1: April 2020; Phase 2: Oktober 2020) haben wir mit jeweils denselben 80 Personen aus Österreich bis zu einer Stunde lang am Telefon gesprochen, um zu hören, wie sich ihr Lebensalltag und ihre Ansichten über die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung verändert haben. Uns interessiert, wie sich die Menschen angesichts der anhaltenden Belastungen verhalten, um sich und andere Menschen zu schützen und welche Formen der gegenseitigen Unterstützung entstehen. Darüber hinaus möchten wir die Sorgen und Hoffnungen in Bezug auf längerfristige Veränderungen während und  nach der Pandemie kennen lernen. Die Einsichten, die wir durch die Studie gewinnen, sind für die zukünftige Politikgestaltung hochrelevant, denn sie helfen, zu verstehen, wie die Pandemie unser Miteinander verändert. 

Ergebnisse der ersten Interviewphase (April 2020)

Im April berichteten uns viele Interviewteilnehmer*innen von einem Gefühl des Miteinanders in der Gesellschaft. Wir hörten von unterschiedlichen Formen der nachbarschaftlichen Unterstützung und der Hilfe im Freund*innen- und Bekanntenkreis, wie z.B. dem Einkaufen von Lebensmitteln für ältere Nachbar*innen oder dem gemeinsamen Musizieren auf Balkonen. Die Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung zur Pandemie-Eindämmung war sehr hoch, wie auch eine parallel laufende repräsentative Fragebogen-Studie der Universität Wien, das Austrian Corona Panel Projekt (ACPP), bestätigt. Gleichzeitig zeigte sich schon damals, dass einige Menschen Zweifel an der Effektivität der Maßnahmen oder an ihrer verfassungsrechtlichen Konformität hatten. Viele äußerten Sorgen bezüglich der Auswirkungen der Maßnahmen auf die demokratischen Strukturen in Österreich. Besonders auffallend war, dass dieselben Menschen, die diese Kritik und diese Bedenken äußerten, trotzdem angaben, sich an die Maßnahmen zu halten. Trotz ihrer Bedenken waren sie überzeugt, dass es wichtig sei, einen eigenen  Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung zu leisten und insbesondere auch andere Menschen nicht in Gefahr zu bringen. Insgesamt erlebten wir in diesen Interviews einen eher hoffnungsvollen Diskurs, ein Gefühl des Miteinanders und des Zusammenhalts. Dieses Gefühl war gekoppelt mit der Hoffnung, dass das Schlimmste bis zum Sommer ausgestanden sein würde. Ähnliches zeigten die ACPP-Umfragen (siehe hier und hier). Teilnehmer*innen der SolPan-Studie brachten auch ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass sich nachhaltigere Lebenspraxen beispielsweise im Hinblick auf regionale Produktion oder eine Einschränkung der Flugverkehrs nach der Pandemie stärker durchsetzen könnten. 

Einsichten aus der zweiten Interviewphase (Oktober 2020)

In der zweiten Interviewphase, die im Oktober 2020 durchgeführt wurde, haben wir festgestellt, dass diese eben geschilderte hoffnungsvolle Einschätzung bei den meisten unserer Interviewpartner*innen einer sorgenvollen Stimmung Platz gemacht hat. Schon vor Beginn des Lockdowns am 2. November äußerten Teilnehmer*innen unter anderem folgende Sorgen und Ansichten:

1.  Unklare oder nicht nachvollziehbare Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung führen zu Unverständnis, Nicht-Akzeptanz oder Nicht-Befolgung: Interviewteilnehmer*innen erläuterten, dass sie Maßnahmen, deren Sinn und Zweck nicht klar sind, nur mit einem gewissen Unwohlsein umsetzen. Viele wünschen sich dabei wissenschaftliche Belege, welche Maßnahmen was bringen. Zum Beispiel wurde hier angeführt, dass nicht nachvollziehbar sei, warum es in den Gängen vieler öffentlicher Gebäude eine Mund-Nasen-Schutz-Pflicht gilt, wohingegen diese Pflicht nicht gilt, sobald man an einem zugewiesenen Platz, z.B. im Theater, in einem Uni-Hörsaal oder in einem Veranstaltungsraum sitzt. Interviewteilnehmer*innen sahen darin eine Diskrepanz zum derzeitigen Wissensstand über die Übertragungswege des SARS-CoV-2 Virus. Manch ein*e Interviewt*er merkte des Weiteren an, dass auch Wissenschaftler*innen Verantwortung für die Unklarheit trügen. Sie wunderten sich, warum es trotz längeren Andauerns der Krise noch keine klareren Studien gäbe. Dabei sind sie frustriert darüber, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Virus und dessen Ausbreitung oftmals ungesichert seien. 

2.  Der Respekt vor anderen Menschen ist ein wichtiger Grund für die Einhaltung von Maßnahmen. Selbst jene, die nicht uneingeschränkt von der Wirksamkeit aller Maßnahmen überzeugt sind, halten sich primär aus Respekt vor anderen daran. Vor allem das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes sowie das Einhalten von Mindestabständen gelten hier als Zeichen des Respekts gegenüber anderen. Auf die genaue Einhaltung der oben genannten Maßnahmen wird vor allem in der Nähe von Personen die Risikogruppen angehören geachtet. Siehe zum Thema soziale Normen auch die Erkenntnisse des ACPP. Aus manchen Interviews ergibt sich der Eindruck, dass der Eigenschutz in den allermeisten Fällen untrennbar mit Bemühungen verbunden ist andere nicht einer Infektionsgefahr auszusetzen -  etwa, wenn es um das Tragen von MNS oder um das Einhalten von Abstand geht.

3.  Im Umgang mit der Pandemie breitet sich eine “Müdigkeit” aus: Es kann unter den Interviewteilnehmer*innen von einer „Pandemie-Ermüdung“ gesprochen werden. Diese wird auf zwei Arten sichtbar.  Zum einen lässt das Interesse an den tagesaktuellen und internationalen Fallzahlen nach - manche Interviewpartner*innen berichten sogar von einer zunehmenden Abneigung gegen Nachrichten (“Ich kann mir das nicht mehr ansehen”). Zum anderen, berichteten viele Teilnehmer*innen, dass sie ihren Alltag, wie er vor der Pandemie war, vermissen. Dies ist anders als noch im Frühjahr. Im Frühjahr erzählten einige Interviewteilnehmer*innen davon, dass sie die Entschleunigung (Stichworte: weniger Termine, weniger Reisen) durch den Lockdown, durchaus genießen. Nun macht sich eher ein Gefühl der Erschöpfung breit. Erschöpfung, weil der Alltag einerseits irgendwie seinen Gang geht und andererseits nichts so ist wie zuvor (Stichwort: Klassenschließungen in Schulen bei Verdachtsfällen). 

4.  Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu: Einhergehend mit Sorgen über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie berichteten mehr Interviewteilnehmer*innen als zuvor, dass sie ein Auseinanderdriften der Gesellschaft im Allgemeinen und auch in ihrem persönlichen Umfeld wahrnehmen. Die unterschiedlichen Einstellungen von Personen, die die Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung als gerechtfertigt empfinden und von anderen, die diese als überzogen empfinden, wurden hier oftmals als Beispiel für diese wahrgenommene Spaltung der Gesellschaft angeführt. Ähnliches berichtet auch die ACPP-Umfrage. Auffällig ist, dass Menschen, die verschwörungstheoretischen Ideen zumindest ein wenig Glauben schenken, das Bedürfnis verspüren, sich deutlich von „echten“ Verschwörungstheoretiker*innen abzugrenzen. 

5.   Die viel gepriesene Hoffnung auf einen Impfstoff wird von vielen unserer Studienteilnehmer*innen nicht geteilt: Die Ansichten zur Möglichkeit eines Impfstoffes zur Prävention von COVID-19 gehören zu den bemerkenswertesten Ergebnissen der Interviewstudie. Viele Interviewteilnehmer*innen erklärten, dass sie einer Impfung skeptisch gegenüberstehen. Dies war selbst bei Personen der Fall, die Impfungen generell befürworten. Als Gründe für diese Skepsis wurden u.a. angeführt, dass Impfungen normalerweise Jahre brauchen bis sie entwickelt und geprüft worden sind. Dies führt offenbar zu einer gewissen Verunsicherung, was die Sicherheit einer eventuellen COVID-19-Impfung anbelangt. Viele der Teilnehmer*innen erklärten, dass sie sich nicht als eine der ersten Gruppen impfen lassen würden, sondern erst einmal abwarten würden. Gleichzeitig erwähnte eine große Anzahl von Teilnehmer*innen, dass - falls es zu Anfang nicht genügend Dosen für alle gibt - jene, die größeren Risiken ausgesetzt sind, zuerst geimpft werden sollten,. Ein Teilnehmer fasste es wie folgt zusammen: „Jeder wartet auf die Impfung, aber niemand will sich impfen lassen.“

6.  Es herrscht Sorge über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie: In beiden Interviewphasen wurde deutlich, dass Menschen sich große Sorgen über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie machen. Auch diese Beobachtungen decken sich mit den Erkenntnissen des ACPP. Genannt wurden in der SolPan-Studie zum Beispiel negative Auswirkungen auf Kinder -- nicht nur was deren Bildungschancen anbelangt, sondern auch was die psychosozialen Belastungen dieser Krise betrifft. Ähnlich schilderten Menschen ihre Sorgen über die Isolation und Einsamkeit von älteren, alleinstehenden oder vulnerablen Personen -- nicht nur im eigenen Familien- und Bekanntenkreis, sondern auch in der weiteren Gesellschaft. Des Weiteren herrschte die Sorge, dass die Bürden der Pandemie überdurchschnittlich von jenen gesellschaftlichen Gruppen getragen werden, die wirtschaftlich und sozial aufgrund von sozio-ökonomischen Faktoren bereits benachteiligt sind. Dabei wird auch explizit ein Anstieg von Armut befürchtet. In Bezug auf diese Auswirkungen herrschte die Meinung vor, dass gesellschaftlich und politisch noch nicht ausreichend über aktuell entstehende Herausforderungen und deren zukünftige Bewältigung gesprochen werde. Nichtsdestotrotz gibt es auch einige von den Interviewteilnehmer*innen als positiv bewertete Veränderungen: Der gesunkene Flugverkehr ist ein solches Beispiel. Hier wünschen sich einige keine Rückkehr zur alten Normalität vor der Pandemie. Hoffnungen auf umweltpolitische Veränderungen kommen in der zweiten Interviewphase im Vergleich zu den Interviews im April nur mehr teilweise vor. 

Fazit

Unsere Ergebnisse zum Thema Impfung deuten darauf hin, dass ein möglicher Impfstoff nicht als “einschneidende” Hoffnung oder Lösung gesehen werden kann, obwohl dies von Seiten der Regierungskreise oftmals so präsentiert wird. Es herrschen, selbst bei Impf-Befürworter*innen, große Bedenken bezüglich der Sicherheit eines Covid19-Impfstoffes. Diese gilt es, nicht pauschal als “Impfskepsis” abzutun, sondern durch Dialog und Kommunikation zu adressieren.

Die Ergebnisse der SolPan-Studie machen deutlich, dass eine unschlüssige Begründung von Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung zu Unverständnis bis hin zum Widerstand führen kann. Für den zukünftigen Umgang mit der Verkündung von Maßnahmen bedeutet dies, dass politische Entscheidungsträger*innen die Gründe und Grundlagen für Maßnahmen - trotz des sich schnell ändernden Wissensstandes - klarer kommunizieren sollten. Auch wünschen sich viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, nicht nur Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und zur Unterstützung der Wirtschaft, sondern auch Maßnahmen gegen die vielfältigen negativen sozialen Folgen der Pandemie. Hier gilt es zu überlegen, wie Menschen besser gehört und eingebunden werden können. Viele Möglichkeiten zur offenen und demokratischen Diskussion, z.B. in Bürger*innenforen oder durch andere Mitbestimmungsmöglichkeiten, sind durch die Einschränkungen weggefallen. Dies ist im Sinne des Gesundheitsschutzes zwar nachvollziehbar, jedoch brauchen wir eine gesellschaftliche Diskussion über die Auswirkungen der Pandemie, um einer möglichen Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

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Das SolPan Projekt ist eine internationale und vergleichende Längsschnittstudie. Hier stellen wir zunächst erste Ergebnisse aus Österreich vor. Der Frage, wie Menschen mit der Pandemie und den Maßnahmen umgehen, wird neben Österreich in acht weiteren europäischen Ländern nachgegangen: Belgien, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, den Niederlanden, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich. Die Ergebnisse können somit über Landesgrenzen hinweg verglichen werden. Dadurch, dass dieselben Personen im Laufe der Pandemie mehrfach interviewt werden, können durch die Studie auch Einsichten darüber gewonnen werden, wie sich der Umgang mit der Pandemie, und die zugrundeliegenden Gefühle und Motivationen, im Laufe der Zeit verändert haben. Innerhalb des Solpan + Latin America Projekts gehen Forscher*innen den gleichen Fragen zusätzlich in 15 lateinamerikanischen Ländern nach.